Forschung ist das Fundament für Fortschritt, auch im Training. Doch gerade im heutigen Informationszeitalter, in dem Namen wie Andrew Huberman und Podcasts von Joe Rogan die Trainingswelt (leider) prägen, birgt die Flut an neuen Studien auch Gefahren. Schnell werden Forschungsergebnisse aus dem Kontext gerissen, vereinfacht oder als absolute Wahrheit dargestellt. Ein einzelner Mechanismus, isoliert aus einem komplexen System betrachtet, wird dann zur neuen „Wunderwaffe“ im Training erklärt (Huberman ist da ein Paradebeispiel). Aber Vorsicht! Ohne Hintergrundwissen und Kontext kann diese vermeintliche Trainingsoptimierung schnell zum Schuss nach hinten losgehen.
Das Problem: Kontextverlust und Vereinfachung
Das Kernproblem liegt in der Natur der Forschung selbst. Wissenschaftliche Studien sind darauf ausgelegt, einzelne Variablen zu isolieren und Störfaktoren zu minimieren. Um beispielsweise die Effekte von Dehnen und Krafttraining auf die Beweglichkeit zu vergleichen, versucht man in Studien, alle anderen Einflussfaktoren so konstant wie möglich zu halten. Dadurch sind sie weit entfernt von der Realität. Die Ergebnisse solcher Studien sind trotzdem wertvoll, müssen aber im Kontext der komplexen Realität des Trainings betrachtet werden.
Beispiel 1: Dehnen vs. Krafttraining – Beweglichkeit neu gedacht?
Die Debatte, ob Dehnen oder Krafttraining besser für die Beweglichkeit ist, schwelt schon lange. Aktuelle Forschung, wie das vielzitierte Review von Afonso aus dem Jahr 2021, suggeriert, dass Krafttraining in puncto Beweglichkeitsverbesserung mit Dehnen gleichziehen kann. Die Folge: Ein regelrechter Hype in den sozialen Medien! „Dehnen ist überflüssig!“, „Krafttraining reicht für Beweglichkeit!“ – solche Schlagzeilen kursierten im Netz.
Doch ist es wirklich so einfach? Betrachten wir den Kontext: Die Probanden in solchen Studien sind selten Hochleistungssportler. Oft handelt es sich um untrainierte Personen oder Menschen mit deutlichen Defiziten in der Beweglichkeit. Für diese Zielgruppe mag Krafttraining tatsächlich einen enormen Zugewinn an Beweglichkeit bringen. Aber gilt das auch für fortgeschrittene Athleten, die bereits jahrelang trainieren und spezifische Anforderungen an ihre Beweglichkeit haben?
Die Werkzeugkiste des Trainings: Kontext entscheidet!
Es ist wichtig zu verstehen, dass Trainingsmethoden und Übungen nur Werkzeuge sind. Krafttraining ist ein exzellentes Werkzeug, um Kraft aufzubauen – das Nonplusultra, wenn es um pure Stärke geht. Dehnen ist ein Werkzeug zur Verbesserung der Beweglichkeit. Die Frage darf nicht sein, welches Werkzeug allgemein „besser“ ist, sondern welches Werkzeug für dein Ziel in deinem Kontext am effektivsten ist.
Ein Sportler, der bereits ein hohes Trainingspensum absolviert und an seine Grenzen in Sachen Kraftentwicklung stößt, wird durch zusätzliches Krafttraining zur Beweglichkeitssteigerung kaum Fortschritte erzielen. Hier kann gezieltes Dehnen jedoch eine sinnvolle Ergänzung sein, ohne das System zusätzlich zu belasten. Umgekehrt profitiert ein untrainierter Mensch mit mangelnder Beweglichkeit enorm von Krafttraining, da es Kraft und Beweglichkeit gleichzeitig verbessert.
Die Lösung liegt in der maßgeschneiderten Anwendung. Krafttraining primär für Kraftentwicklung nutzen, Dehnen gezielt für Beweglichkeitsdefizite einsetzen – oder Krafttraining so anpassen, dass es auch die Beweglichkeit fördert, wenn das primäre Ziel nicht Maximalkraft ist. Für Anfänger oder stark eingeschränkte Personen ist Krafttraining oft die „eierlegende Wollmilchsau“, während fortgeschrittene Athleten differenzierter vorgehen müssen.

Beispiel 2: Plyometrics vs. Gewichtheben – Sprungkraft im Fokus
Auch die Frage, ob Plyometrics (Sprungtraining) oder Gewichtheben besser für die Sprungkraft ist, wird heiß diskutiert und wissenschaftlich untersucht. Reviews zeigen, dass beide Methoden ähnlich effektiv sein können. Sollte man sich also einfach für das entscheiden, was einem besser gefällt?
Nicht ganz. Wieder spielt der Kontext eine entscheidende Rolle. Ein Gewichtheber-Coach mit starken Athleten, die Sportarten mit kurzen Bodenkontaktzeiten ausüben, könnte irgendwann feststellen, dass Gewichtheben allein nicht mehr ausreicht, um die Sprungkraft weiter zu steigern. Diese Athleten sind bereits stark genug, ihre Sportart erfordert aber mehr die Fähigkeit, Kraft in kürzester Zeit zu entwickeln – hier kommen Plyometrics ins Spiel, die den Dehnungsverkürzungszyklus optimal trainieren.
Auf der anderen Seite könnten junge Basketballspieler sein, die im Wachstumsschub stecken, zwar reaktiv und sprunggewandt sind, aber gleichzeitig Defizite in der Kraftentwicklung aufweisen. Für sie wäre reines plyometrisches Training auf Dauer nicht ideal, da der Reiz für Kraft- und Muskelaufbau fehlt. Hier könnte Gewichtheben die bessere Wahl sein, um eine solide Kraftbasis zu schaffen, auf der die Sprungkraft weiter aufgebaut werden kann.
Fazit: Kein „Entweder-Oder“, sondern „Sowohl-Als-Auch“ im Kontext
Forschung zeigt, dass Plyometrics und Gewichtheben beide effektive Werkzeuge zur Steigerung der Sprungkraft sind. Die Entscheidung, welche Methode (oder Kombination beider) optimal ist, hängt jedoch stark vom individuellen Kontext ab: Trainingszustand, Sportart, Stärken und Schwächen des Athleten. Es geht nicht darum, eine Methode als „besser“ zu deklarieren, sondern darum, die Werkzeuge Plyometrics und Gewichtheben im jeweiligen Kontext intelligent einzusetzen.
Beispiel 3: Tiefe vs. Halbe Kniebeuge – Winkel, Gewicht und Spezifität
Die Frage nach der optimalen Kniebeugetiefe für Sprungkraft und Sprintschnelligkeit beschäftigt Trainingswissenschaftler und Athleten seit Langem. Sollte man tief in die Hocke gehen oder reichen halbe oder gar viertel Kniebeugen? Auch hier liefern Studien oft nur bedingt hilfreiche Antworten, da die Probanden meist wenig Trainingserfahrung haben und der zeitliche Kontext im Training oft vernachlässigt wird.
Tiefe Kniebeugen bieten Vorteile in Bezug auf Bewegungsamplitude und Muskelaufbau, benötigen geringere Trainingsgewichte und sind möglicherweise schonender für passive Strukturen – gerade im Athletiktraining interessant, wo die Gesamtbelastung oft hoch ist. Halbe Kniebeugen erlauben höhere Gewichte und fördern möglicherweise eine stärkere neuromuskuläre Aktivierung im oberen Bewegungsbereich.
Die Winkel-Spezifität, oft als Argument für halbe Kniebeugen im Sprint- und Sprungtraining angeführt, ist jedoch nur ein Aspekt. Bewegungsgeschwindigkeit und Kraftentwicklungsmuster sind weitere, oft wichtigere Faktoren. Schwere Kniebeugen, egal in welcher Tiefe, sind in Bezug auf Spezifität zu Sprints und Sprüngen ohnehin relativ unspezifisch. Ballistische Übungen wie Sprungkniebeugen oder Übungen aus dem Gewichtheben sind hier deutlich spezifischer. Noch spezifischer sind natürlich Sprints und Sprünge selbst.
Die Lösung? Flexibilität und Phasenplanung! Tiefe Kniebeugen können in einer allgemeinen Trainingsphase zu Beginn sinnvoll sein, um eine breite Basis zu schaffen. Halbe Kniebeugen können als Übergang zu spezifischerem Training dienen oder zur Krafterhaltung mit niedrigerem Volumen eingesetzt werden. Es muss kein dogmatisches „Entweder-Oder“ geben – die intelligente Kombination beider Varianten, abhängig von Trainingsphase und Ziel, ist oft der Schlüssel.

Beispiel 4: Volle vs. Reduzierte Range of Motion – Muskelaufbau im Detail
Ein aktuelles und viel diskutiertes Thema ist die Rolle des Bewegungsumfangs (Range of Motion, ROM) im Krafttraining. Ist es besser, volle Wiederholungen auszuführen oder reichen Teilwiederholungen? Sollte man vorrangig in gedehnter oder verkürzter Muskelposition trainieren, um den Muskelaufbau zu maximieren?
Die Forschungslage hierzu ist noch jung und liefert keine eindeutigen Antworten. Bisherige Studien deuten auf geringe Unterschiede zwischen verschiedenen ROM-Varianten hin. Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für dogmatische Aussagen wie „Nur Training in der gedehnten Position ist optimal für Muskelaufbau!“.
Dennoch zeigen Studien, dass es Unterschiede gibt, ob man in voller oder reduzierter ROM trainiert, ob man gedehnte oder verkürzte Muskelpositionen fokussiert. Die Konsequenz sollte daher nicht sein, sich auf eine Methode zu versteifen, sondern die Vielfalt zu nutzen.
Die Kunst der Übungsauswahl: Abwechslung und Ganzheitlichkeit
Betrachten wir Klimmzüge im Supinationsgriff (Handflächen zum Körper): Hier wird der Bizeps eher in verkürzter Position trainiert. Wenn man nun eine zusätzliche Bizepsübung ins Training integrieren möchte, wäre es wahrscheinlich sinnvoll, eine Übung zu wählen, die den Bizeps eher in gedehnter Position trainiert – beispielsweise Bizepscurls auf der Schrägbank, bei denen die Arme hinter dem Körper hängen. So deckt man beide Bereiche ab.
Ähnlich verhält es sich bei Beinbeuger-Übungen: Romanian Deadlifts trainieren die Hamstrings in gedehnter Position (Hüftbeugung), während Leg Curls im Liegen die Hamstrings eher in verkürzter Position (Kniebeugung) belasten. Durch die Kombination beider Übungen trainiert man die Hamstrings umfassender und aus verschiedenen Winkeln.
Auch für „Oldschool-Bodybuilder“, die auf Grundübungen setzen, gilt: Ergänzende Isolationsübungen (besser: eingelenkige oder zweigelenkige Übungen) können sinnvoll sein, um verschiedene Muskelgruppen differenzierter und umfassender zu trainieren.
Fazit: Kontext ist König!
Die Quintessenz dieses Artikels: Es kommt immer auf den Kontext an! Wenn du das nächste Mal in einem Podcast oder auf Social Media eine Aussage wie „Methode A ist besser als Methode B“ hörst, sei kritisch. Hinterfrage den Kontext, in dem diese Aussage getroffen wird. Welche Zielgruppe wird angesprochen? Welche Voraussetzungen und Ziele hast du selbst?
Betrachte Forschungsergebnisse als Werkzeuge in deiner Trainingskiste. Jedes Werkzeug hat seine Stärken und Schwächen, seine spezifischen Einsatzbereiche. Die Kunst liegt darin, die richtigen Werkzeuge im passenden Moment und im richtigen Kontext einzusetzen, um deine individuellen Trainingsziele optimal zu erreichen. Anstatt einfachen „A ist besser als B“-Dogmen zu folgen, entwickelst du ein tieferes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge im Training und lernst, Forschungsergebnisse kritisch zu bewerten und in deinen individuellen Trainingskontext einzuordnen. Nur so verhindern du, dass vermeintlich wissenschaftlich fundierte Trainingsratschläge dein Training verschlimmbessern und machst die Forschung zu deinem Verbündeten im Streben nach sportlichem Erfolg und arbeitest wirklich evidenzbasiert.
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